Im Mediencenter wird unter den europäischen Journalisten diskutiert, ob tatsächlich alle anwesenden Athleten unter 20 Jahre sind. Nach dem Habitus einiger afrikanischer Läufer meint man, dass sie zur U25-Klasse gehören. Die Geburtsdaten stammen mutmaßlich nicht aus dem gregorianischen oder julianischen, sondern aus dem Mondkalender.
Dann geht es los mit der Rallye über die Hürden. Unsere Sprint- und Hürdengruppe in Lima wird von ÖLV-Nationaltrainer Philipp Unfried betreut. Er war selbst einmal ein Hürdenspezialist, auch Trainer des Jahres und ist einer der profundesten Kenner der Trainings- und Methodenlehre.
Iman Roka ist die Erste, die über die 10 Hürden laufen wird. Sie hat 13,59 s im persönlichen Geschichtsbuch stehen. Schon einmal hat sie finale Luft bei der U18-Europameisterschaft in Jerusalem geschnuppert. Diesmal ist es schwerer in den Endlauf zu kommen, denn Weltmeisterschaften sind Europameisterschaften für Fortgeschrittene. Iman tanzt gerne. Das macht sie aber nur mit „Tarnkappe“, denn sie will dabei nicht gesehen werden. Demnächst nützt sie ein Stipendium und beginnt ein Studium in Boston. Dass sie am liebsten karibische Gerichte isst, hat vermutlich mit Mama zu tun, die von der Insel Tobago kommt. Mutter Candace und Vater Sebastian sitzen auch im Stadion und drücken die Daumen.
Der Start gelingt Iman gut und der Lauf schaut auch flüssig aus. Am Ende wird Iman für mich Dritte, was sich als Irrtum herausstellt. Dritte wird die Slowakin Slezakova, die mit 13,90 s um ein Hundertstel vor Iman ins Ziel kommt. Ein Zeitunterschied im Nanobereich.
„Nein, ich bin nicht happy. Mein Start hat sich gut angefühlt, aber dann habe ich fünf Hürden touchiert. Das wirkt sich auf die Zeit aus, sodass auch keine persönliche Bestzeit zustande kam. Ich bin enttäuscht, dass ich nicht direkt in den Zwischenlauf aufsteige. Jetzt kann ich nur noch auf „plus 8 fastes times“ hoffen.“
Die Endabrechnung ist mehr mit Essig als mit Öl angerichtet. Es ist wie ein Fotofinish zu lesen. Iman wird 27., und es fehlen 0,07 s auf die Qualifikation zum Zwischenlauf.
Isabelle Engel ist die zweite Österreicherin über die 100 m Hürden. Sie bringt 14,13 s als Bestzeit mit und ist in ihrem Vorlauf in einen Countryclub von 13-Sekunden-Sprinterinnen eingebettet. Das könnte gut als Rutschbahn für eine persönliche Bestleistung dienen. Isabelle gehört zur Hürden-Elitegruppe von Beate Hochleitner und Christoph Ranz, in der auch Enzo Diessl und Philipp Pichler Mitglieder sind. Die Kurzhürden sind ihr Lieblingsbewerb. Sie mag die Eleganz dieser Disziplin und meint, dass man mutig und resistent sein muss, um beim Hürdenlauf Erfolg zu haben. Engel studiert Sportjournalismus und wäre sicher eine eloquente Kollegin im Mediencenter. Am Start macht sie noch eine Neuro-Übung und grüßt fröhlich in die Kamera. Nach dem Lauf resümiert sie:
„Ich hatte einen guten Start und war dann ganz auf meine Bahn fokussiert. Dadurch lief ich mein Rennen und hatte einen guten Rhythmus. Eine neue Bestzeit wäre schön gewesen, aber so weit weg war ich gar nicht. Es ist toll bei einer WM dabei zu sein. Ich habe das ganze Package in Lima genossen.“
Schließlich nimmt Philipp Pichler die Hürden unter die Beine. Er hat noch vor Tagen konzentriert trainiert und konsequent Übungen aus der Neuroathletik gemacht. Dann wurde er krank. Die Entry List kommt ihm auch nicht entgegen, denn in seinem Vorlauf sind sechs 13-Sekunden-Läufer. Seine schnellste Zeit bisher war 14,05 s. Die Frage ist, wieviel Substanz er durch die Bettruhe eingebüßt hat.
Beim Lauf sieht man, dass sein Körper nur business as usual zulässt. Er bemüht sich zu forcieren, kann aber nicht an Schnelligkeit zulegen. Als Philipp in die Mixed Zone kommt, wirkt er müde, aber nicht frustriert.
„Es war keine Frage, ob ich trotz fehlender Fitness starten werde. Immerhin ist das eine Weltmeisterschaft und da wollte ich dabei sein. Allerdings merkte ich schon beim Aufwärmen, dass ich wenig Kraft habe. Es war ein eigenartiges Gefühl. Aber ich bin froh, dass ich gestartet bin, und der Platz und die Zeit sind mir nicht wichtig.“
Auffallend ist bei dieser Junioren-WM, dass China in der Leichtathletik immer erfolgreicher wird. Früher siegten die Chinesen nur beim Turnen, Tischtennis und beim Turmspringen. Einstweilen sind sie vor allen in den Wurfdisziplinen Weltspitze. Das Diskuswerfen in Lima gewann Bingyang Han mit 57.57 m. Zweite wurde Jingru Huang mit 56.47 m. Die Werferin Jiale Zhang schleudert einstweilen den Hammer fast 10 m weiter als ihre Konkurrentinnen. Ob in China alles nach dem Reinheitsgebot abläuft, kann man nur hoffen.
Am Nachmittag hat der Himmel die Farbe einer Misosuppe. Es ist echt kalt, windig und es tröpfelt. Die Athletinnen ohne Höhenangst finden sich am Stabhochsprungplatz ein, um sich die Plätze und Medaillen auszumachen. Magdalena Rauter, die Vorzugschülerin von Thomas Neuhauser, ist auch dabei. Die Tirolerin hat in den letzten Jahren viel an der Dreifaltigkeit Kraft, Technik und Selbstsicherheit gearbeitet. Sie gehört einstweilen zum erweiterten Bildungskanon jedes Journalisten in der Leichtathletik.
Die Anfangshöhe von 3,80 m meistert sie souverän, bei 3,95 m braucht sie zwei Versuche, was unter Best of belanglos fällt. Die deutsche und die kanadische Springerin scheiden bei dieser Höhe aus. Damit sind nur mehr 10 von 12 Teilnehmerinnen dabei. Maggi steigt auf einen härteren Stab um und verändert den Anlauf. Der Bewerb ist jetzt lang, aber nicht weilig. Bei 4,05 m sind wieder zwei weniger. Dann wird die Latte auf 4,15 m gelegt. Das ist vielen Konkurrentinnen zu hoch. Rauter springt die Höhe im ersten Versuch, was in der Folge schlagend wird. Auch Hewett aus Australien meistert die Höhe. Die US-Amerikanerin Molly Haywood ist sowieso eine Klasse für sich. Schön langsam realisieren wir, dass es um eine Medaille geht, da immer mehr Springerinnen bei 4,15 m ausscheiden. Die Stimmung ist spooky, da das niemand glauben will. Schließlich ist es Gewissheit. Magdalena gewinnt die Silbermedaille und der nationale Jubel kennt kein Ende. Eingewickelt in die rot-weiß-rote Fahne springt sie herum und steckt uns mit ihrer Freude an. Bescheiden steht der Kreator des Stabhochsprungaufschwungs von Österreich bei uns und analysiert den Triumpf.
„Das Einspringen war grottenschlecht. Es war kalt und der Wind war auch kein Freund. Aber das muss eine Athletin der erweiterten Weltklasse wegstecken. Auch die ersten Sprünge waren nicht optimal. Dann kam Maggi aber in Schwung und wir passten vier Mal die Stäbe an die Bedingungen an. Ich war sicher, dass sie die aufgelegten Höhen meistern kann. Sie hat dafür das Können und auch die Selbstsicherheit. Das Wetter darf keine Ausrede sein. Für mich ist die Medaille ein unglaubliches Erlebnis und eine Genugtuung, denn ich begleite den Aufstieg von Maggi schon viele Jahre.“
Als ich Thomas frage, wie es ihm jetzt persönlich geht, sagt er: „Frag mich das morgen, ich kann das alles noch nicht einordnen. Heute möchte ich mich nur noch freuen.“ Ich habe zu wenige Buchstaben auf der Tastatur, um meinen Respekt für ihn auszudrücken.
Nein, jetzt ist die Füllfeder noch nicht ausgeschrieben. Morgen steigt Benjamin Pichler in den Wurfring. Beflügelt durch den Höhenflug von Magdalena kann auch er eine Sensation abliefern und den Diskus auf Finalteilnahme fliegen lassen. Wir werden über seine Performance berichten und das sollte niemand versäumen.
Text: Herbert Winkler