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U23-EM – Innenansichten aus Espoo - Samstag

Apfel und Stamm Latzelsberger © Herbert Winkler

Auch heute ist ein Prachttag. Der Himmel ist azzurro, und nach dem Datumswechsel hat es 17 Grad. Ein Pullover ist ein wertvolles Stück Textil. Das dauert nicht lange. Gegen Mittag wird es wieder heiß. Espoo hat berühmte Sportler vorzuweisen. Sowohl Kimi Räikkönen, der 2007 Formel-1-Weltmeister war, als auch der Radrennfahrer Charly Wegelius sind Kinder der Stadt. Im Ausrichten von Leichtathletik-Events hat man Erfahrung. 2003 waren die ersten Para-Leichtathletik-Europameisterschaft in Espoo.

Um 10 Uhr beginnt das Stabhochspringen der Männer. Die Anlage ist von der Sonne gut ausgeleuchtet und geheizt. Wo viel Licht ist, ist im Stadion auch kein Schatten. Oliver Latzelsberger freut sich auf den Wettkampf. Auch Vater Martin ist schon putz und munter. Oliver war schon bei der U18-Europameisterschaft in Györ dabei und sprang damals 4,50 m. Nach einer Unterbrechung durch Krankheit und einem Trainerwechsel ist er wieder auf die Leichtathletikbühne zurückgekehrt. Er hat kein Ablauf-, sondern ein Anlaufdatum.

Oliver steigt bei 4,90 m ein, die er im zweiten Versuch überquert. Bei 5,05 m bricht er den Anlauf ab und fällt aus der Zeit. Der zweite Versuch gelingt dann gut. Die österreichische Fangemeinde vor der Sprunganlage ist begeistert. Am Ende bleiben 5,05 Meter in der Wertung, bei 5,20 m ist die Latte widerspenstig und fällt drei Mal.


Die österreichische Mannschaft steht treu zu Latzelsberger.

Gleichzeitig beginnt Dominique Hall seinen Zehnkampf. Er hat das Limit für die EM in den USA erbracht, wo er lebt und studiert. Dominique hat eine Doppelstaatsbürgerschaft. Seine Mutter kommt aus dem Burgenland. Die Hitze macht ihm nichts, denn er startet beim 100-m-Lauf in langer Hose. Die Stoppuhr bleibt bei 11,29 Sekunden stehen. Im anschließenden Weitsprung kommen dann 6,60 m in die Wertung.

Ein Höhepunkt des Vormittags sind die 400-m-Hürdenläufe der Frauen. Es ist Primetime und Showtime zugleich. Es geht um die Qualifikation für den Endlauf am Sonntag. Die Sonne hat gerade einen Hochformausbruch, und das hoffe ich auch für Lena Pressler und Anna Mager. Dann erlebe ich Himmel und Hölle.

Lena ist im ersten Lauf wieder unschlagbar. Man kommt 250 m lang zum Schauen und dann 150 m lang zum Staunen, welche Kraft unsere Rekordhälterin hat. Lena spult derartig souverän ihre Läufe ab, dass mir die Lettern ausgehen. Sieg, 56,48 Sekunden und Aufstieg ins Finale.

Anna nimmt mich dagegen in das Vestibül der Hölle von Alighieri Dante mit. Sie hat gestern eine starken Lauf geboten und wird auch heute als Aufstiegskandidatin gehandelt. Der Start gelingt gut, und Anna nimmt sofort flotte Fahrt auf. Die erste Hürde überquert sie mit dem „falschen“ Bein, doch bringt sie die Kurvenvorgabe in eine nützliche Position. Sie ist auf der Gegengeraden gleichauf mit den anderen Läuferinnen. Dann stürzt sie wie aus heiterem Himmel. Aus der Hoffnung wird plötzlich ein Nichts. Mir fällt nur Trost der trostlosen Art ein. Daher schweige ich lieber.

Eine ähnliche Fallgrube macht sich auch bei der 4x100-m-Staffel der Schwedinnen auf. Auf Frontkurs liegend ereilt plötzlich die Schlussläuferin Staffel ein Stich im Oberschenkel. Aus und vorbei. Die Staffel kommt nicht ins Ziel. Sport kann sehr grausam sein.

Den Vorlauf zur 4x100-m-Staffel der Männer will ich nicht versäumen. Klaus Grünbart, Lukas Pullnig, Stephan Pacher und Noel Waroschitz warten schon sehnsüchtig auf den Tag. Sie sind hochmotiviert. Vom Ranking her sind andere Staffeln schneller, aber mit perfekten Übergaben ist Zeit gutzumachen. Viola Kleiser, die Staffeltrainerin, glaubt an ihre Burschen. Vorerst wird Fehlstart gegeben. Dann zieht Klaus los und lässt keinen Rückstand zu den Konkurrenten zu. Die Übergabe schaut grenzwertig aus, ist aber korrekt. Lukas und Stephan bleiben an den anderen Staffeln dran. Die dritte Übergabe ist nicht optimal, ein Seitenblick von Noel ist notwendig. Dann übernimmt er als Fünfter das Holz und sprintet los. Mich hält es nicht mehr auf der Bank. Phantastisch wie der Junge in den Speed kommt. Noel sprintet zwei Schlussläufer nieder und fixiert dann 40,12 Sekunden. Das ist österreichischer U23-Rekord. Sachliche Fragen sind in der Mixed Zone nicht möglich. Emotio schlägt Ratio. Die Begeisterung und Freude der vier Burschen deckt alles zu.

Im Zehnkampf stößt Dominique Hall die Kugel auf 11,34 m. Er hat damit 2.087 Punkte und ist 22ster. Es führt der Norweger Markus Rooth mit 2.674 Punkten.

Olivia Gürth aus Deutschland läuft mit 9:26,98 min neuen Championships Record über die 3.000-m-Hindernisstrecke.

Der 10.000-m-Lauf geht mir gänzlich durch die Lappen. Die Computer im Medienzentrum liefern weder Bild noch Daten, und das Internet lässt mich rat- und trostlos zurück. Wo ist der Konzern Nokia, wenn man ihn wirklich braucht?

Im Hochsprung der Männer bin ich wieder auf Sendung. Lionel-Afan Strasser hat 2,20 m im Gepäck und wird sich beim vertikalen Wettspringen mit 13 anderen Jumpern messen. Zwei davon sind schon 2,26 m gesprungen, die anderen sind auch ohne Brille in Sichtweite. Inga Babakova steht wie immer am Rand der Anlage. Lionel springt locker 2,05 m. Nach diesem lichten Auftakt verdunkelt sich aber meine Hoffnung auf weitere Höhenflüge. Ich habe keine Chance mehr to make a long short story. Strasser scheitert bei 2,10 m drei Mal.


Inga Babakova und Lionel-Afan Strasser bei der Analyse eines Sprunges.

Dominique Hall springt 1,82 m hoch und läuft die 400 m in 49,99 Sekunden. Damit ist er nach der Halbzeit des Zehnkampfes an 17. Stelle.

Endiorass Kingley hat sich gestern bei der Hop-Step-Jump-Disziplin eingesprungen und setzt heute beim finalen Dreispringen fort. Gleich sein erster Sprung ist 15,87 m weit. Das ist persönliche Bestleistung. Nicht nur das. Damit ist er gemeinsam mit dem Italiener Enrico Montanari auf Bronzekurs. Der zweite Versuch ist übertreten, was man bezweifeln kann, jedoch keinen Klagegesang auslöst. Endiorass ist vollgepumpt mit Selbstvertrauen. Dann der Hammer: Endio springt als nächstes 16,05 m. Der Türke Batuhan Cakir ist jetzt Vierter mit 15,88 m. Im vierten Durchgang geht Endi im Sprungpoker mit und erhöht nochmals auf 16,06 m. Der Dreisprung entwickelt sich zum Krimi der Sonderklasse. Im fünften Durchgang erwacht der Türke wieder und verdrängt Endiorass vom dritten Platz. Dabei bleibt es dann. Kingley hat mit seiner tollen Performance für alle ein Ikarus-Feeling ausgelöst.

Damit ist auch mein Schreibtag zu Ende. Sollte ich eine Seele haben, werde ich sie jetzt baumeln lassen. Und, da Altern im wesentlichen ein Austrocknungsprozess ist, werde ich dem vorbeugen. Morgen ist ein großer Tag. Vielleicht gibt es beim Finale über die 400 m Hürden der Frauen eine Sonntagsüberraschung? Halten Sie dem österreichischen Team auch morgen die Treue. Es zahlt sich aus.

Herbert Winkler

15/07/23 07:20, Text: Helmut Baudis

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