Der heutige Tag hat für unser Team ziemliche Programmdichte. Im Medienzentrum beziehen die Textschreibern und Kommentatoren ihre Positionen. Alle Daten und Ergebnisse der Wettkämpfe laufen in den Computern zusammen und werden mit verbindenden Sätzen in die Welt geschickt.
Um 9.45 Uhr startet Chiara-Belinda Schuler in den Siebenkampf. Die Sonne ist schon in Hochform und Chiara ziemlich nervös. „Wenn der Hürdenlauf vorbei ist, geht es mir besser“, zappelt sie mir in den Notizblock.
Gleich im ersten Lauf stürzt eine schwedische Mehrkämpferin. Eine Tragödie. Das darf Chiara im dritten Lauf nicht passieren. Meine Nerven machen bereits Rösselsprünge. Dann geht alles gut, sehr gut sogar. Chiara kommt gut ins Rennen und fetzt in 13,83 Sekunden über die Hürden. Tolle Zeit, die sie auf den 5. Rang der Gesamtwertung bringt.
Bald sitzen auch die 100-m-Läufer in den Startmaschinen. Schon früh am Morgen werden die Vorläufer von den Zwischenläufern getrennt. Auch Noel Waroschitz aus Tirol ist dabei. Er wurde von Hannes Achleitner entdeckt, trainiert und für die 100 m formatiert.. Hannes bringt immer wieder Athleten zu internationalen Großereignissen. Noels Bestzeit ist 10,49 Sekunden. Sein Start gelingt gut, und dann ist Noel lange vorne dabei. Gegen Ende des Laufes schieben sich aber fünf Läufer an ihm vorbei, und die Uhr bleibt bei 10,66 stehen. Eine feine Vorstellung.
Tirolduo Hannes Achleitner und Noel Waroschitz
Einstweilen haben sich die Siebenkämpferinnen beim Hochsprung versammelt. Nachdem es beim Hürdenlauf vorwärts gut ging, soll es jetzt aufwärts auch gut gehen. Die Anfangshöhe von 1,53 m springt Chiara im zweiten, die 1,56 m und 1,59 m im ersten Versuch. Bei 1,62 m wirft sie die Latte zweimal, und ich erkundige mich um einen Defibrillator für mich. Da muss noch was gehen. Der dritte Versuch ist dann Hakuna matata – kein Problem. 1,62 m bleiben in der Wertung.
Neben dem Stadion befindet sich die Aufwärmhalle, die alle Stückln spielt. Kraftkammern, flache und überhöhte Kurvenbahnen, Sprunganlagen und Ballspielplätze. Von solchen Sportanlagen kann man in Österreich nur träumen. Mir schrumpft der Stolz über mein Heimatland auf Backerbsengröße, wenn ich das sehe.
Zu Mittag startet Caroline Bredlinger über die 800 m. Das ist eine Distanz, bei der der Sauerstoff weniger und das Laktat mehr wird. Bei ungeübten Menschen setzt etwa nach 500 m eine unkontrollierte Schnappatmung ein. Caroline kennt nun schon viele Jahre die Dramaturgie der zwei Stadionrunden. Vor wenigen Wochen ist sie 2:04,78 min gelaufen. Am Anfang stehen die Läuferinnen lange in der prallen Sonne. Sie warten nicht auf Godot, sondern auf den Start. Als es losgeht, positioniert sich Caroline im vorderen Drittel des Feldes. Diese Position hält sie auch, als auf der Zielgeraden die Post zugestellt wird. Caroline kämpft mutig und holt mit 2:07,14 min den fünften Platz. Der Aufstieg in den Endlauf geht sich nicht aus.
Dann die 1.500 m mit Marcel Tobler. Es ist heiß geworden, und die Sonne erinnert daran, dass auch in Skandinavien Sommer ist. Vielleicht wird Finnland bald das neue Italien. Der Lauf verläuft sehr hoffnungsfroh. Am Anfang hält Marcel sich im hinteren Teil des Feldes auf und geht den Remplern aus dem Weg. Gemäß Isaac Newton kann kein Körper sein, wo schon ein anderer ist. Bald wird Marcel das Tempo zu bummelig. Er geht nach vorne und lässt keinen Zweifel, dass er mitmischen will. Auf den letzten 200 m nützt er die Sogwirkung der Speedies im Feld und fightet auch auf der Zielgeraden mutig mit. Dann werden die Beine schwer. Am Ende geht sich in seinem Lauf der achte Platz aus. Zwar schafft Marcel nicht den Aufstieg, ist aber beim Dabeisein nicht nur dabei gewesen. Die Zeit kann man nicht bewerten, seine Performance schon. Er ist zufrieden. Karin Haußecker, Marcels Trainerin, auch und ich sowieso.
Karin Haußecker und Marcel Tobler
Das Vorstellen der Diskuswerfer könnte auch ein Casting für einen Herkulesfilm sein. Es sind große Männer, deren Oberarme die Festigkeit von schusssicheren Westen haben. Will Dibo ist dabei keine Ausnahme. Alexander Matejka, Wills langjähriger Trainer, sichtet und analysiert die Entrylists und geht voll Hoffnung auf die Betreuertribüne. Nach Riese Adam und gutem Wettkampfverlauf müsste sich der Aufstieg ins Finale ausgehen. Immerhin hat Will 54,98 m als Bestleistung stehen. Die Hoffnungen erfüllen sich nicht. Schon das Einwerfen macht Probleme und der erste Versuch geht ins Netz. Mein Optimismus nimmt flackrige Formen an. Erst mit dem dritten Wurf setzt sich Dibo mit einem 52er-Wurf auf die hoffnungsfrohe 12. Stelle. Leider zeigt das Video eine Übertretung. Schade.
Alex Matejka mit seinem Werferhünen Will Dibo
Am Nachmittag beginnt Chiara-Belinda Schuler die Aufholjagd. Sie hat noch einige Ass-Karten in der Sporttasche. Das erste Streich gelingt ihr mit der Kugel. Mit 13,45 m kassiert sie 757 Punkte und verbessert sich vom 15. auf den 9. Platz. Halleluja. Saga Vanninen aus Finnland gewinnt den Bewerb und übernimmt damit die Führung im Hepathlon. Ruth Laninschegg, die mit buddhistischer Gelassen Chiara coacht, kommentiert den Aufschwung im Klassement mit Freude. Sie weiß, da kommt noch mehr.
Einstweilen läuft der Brite Jeremiah Azu über die 100 m einen U23-Championships Record. Die Uhr vermeldet 10,04 Sekunden. Großartig. Was ist da morgen beim Finale zu erwarten?
Neben mir im Mediencenter sitzt ein Kollege aus Holland. Er ist orange gekleidet, ist ein Fan der Siebenkämpferin Sofie Dokter und spricht mit mir niederländisch, was wie betrunkenes Deutsch klingt. Wenn er beim 200-m-Lauf nicht für Chiara Schuler schreit, entziehe ich ihm das Du-Wort.
Der Tagesabschluss mit dem 200-m-Lauf gelingt Chiara ausgezeichnet und hellt meine blümerante Stimmung auf. Nach einem Fehlstart einer Französin trommelt Chiara 24,90 s auf die Bahn und egalisiert damit ihre Bestzeit. Das gefällt sogar meinem holländischen Kollegen, weshalb ich mit ihm per Du bleibe. Chiara-Belinda ist am Ende des Tages in den Top Ten. Sie wird sich morgen weiter nach vor arbeiten. Ich entwickel bereits den Hang zu einem Dosenbier.
Am Abend startet Lotte Seiler im 3.000-m-Hindernislauf. Die ersten acht jedes Laufes steigen auf ... Lotte ist in der Entrylist die Neunte. Das könnte sich für die Medizinstudentin ausgehen. Hans Saufüssl, der alle steirischen Leichtathleten aus der Mürzfurche und aus dem Grazer Becken kennt, bleibt bei der Prognose bescheiden. Lotte hat erst vor Kurzem nach langer Verletzungszeit in die Spur gefunden. Das wird dann auch schlagend. Lotte finisht mit 10:42 min und wird Vierzehnte ihre Laufes.
Steirischer Meistertrainer und Lotte Seiler
Noch sind mir die Buchstaben nicht ausgegangen, denn zur späten Stunde findet der 5.000-m-Lauf der Frauen statt. Es ist noch sonnig wie in Österreich zur Mittagszeit. Die Temperatur ist angenehm.
Was für normale Menschen eine Geißelung ist, ist für Carina Reicht das Normale. Sie ist Triathletin, und 5.000 m passen für sie immer. Von Beginn weg formiert sich eine Karawane, und Carina ist mitten drin. Sie bleibt viel in der zweiten Spur. Als nur mehr fünf Runden angezeigt werden, ist Schluss mit der Höflichkeit von Herrn Knigge, und das Feld zieht sich auseinander. Nun spult Carina die Runden in menuettartiger Präzision herunter. Sie wirkt frisch und ist es auch. Der Endspurt ist sehenswert, und das Endresultat sensationell: 6. Platz, 15:56 min und österreichischer U23-Rekord. Wo sind jetzt die Emojis, wenn ich sie wirklich brauche? Carina steht verwundert auf der Bahn, freut sich und macht den Eindruck, sie könnte noch weiterlaufen.
Der Tag endet mit großer Freude, und ich brauche jetzt ein sprudelndes Getränk. Es muss nicht einmal alkoholfrei sein. Für morgen ist nochmals Großes zu erwarten. Vielleicht ist sogar ein Platz weit vorne dabei. Bleiben Sie der österreichischen Mannschaft treu und lesen Sie morgen weiter. Es zahlt sich aus.
Herbert Winkler
Foto (C) ÖLV, Winkler und ÖLV, Coen Schilderman